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0256 - Rätia Energie AG

Empfehlung Rätia Energie AG vom 11. November 2005

Gesuch der Aare-Tessin AG für Elektrizität, der Electricité de France International, der EOS-Holding, der Aziende Industriali di Lugano AG, der Elektra Birseck, der Elektra Baselland, der IBAarau AG, des Kantons Solothurn, der Wasserwerken Zug, der Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg AG und des Kantons Graubünden um Feststellung des Nichtbestehens, eventualiter um Erteilung einer Ausnahme von der Pflicht zur Unterbreitung eines öffentlichen Kaufangebots gemäss Art. 32 BEHG an die Inhaber von Beteiligungspapieren der Rätia Energie AG, Brusio

A.
Die Rätia Energie AG („Rätia Energie“ oder „potentielle Zielgesellschaft“) ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Brusio (GR). Sie verfügt über ein Grundkapital von insgesamt CHF 3'408'115, das aus einem Aktienkapital von CHF 2'783'115 (eingeteilt in 2'783'115 Inhaberaktien mit einem Nennwert von je CHF 1, nachfolgend „Rätia-Aktien“) und einem Partizipationskapital von CHF 625'000 (eingeteilt in 625'000 Partizipationsscheine mit einem Nennwert von je CHF 1, nachfolgend „Rätia-PS“). Die Rätia-Aktien und Rätia-PS sind an der SWX Swiss Exchange („SWX“) kotiert. Die Statuten der Rätia Energie enthalten weder eine Opting out- noch eine Opting up-Klausel.

B.
Die Aare-Tessin AG für Elektrizität („Atel“) ist eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Olten. Ihr Aktienkapital beträgt CHF 303'600'000, eingeteilt in 3'036'000 Namenaktien mit einem Nennwert von je CHF 100. Die Aktien sind an der SWX kotiert. Die Statuten von Atel enthalten weder eine Opting out- noch eine Opting up-Klausel.

C.
Hauptaktionärin der Atel ist die Motor-Columbus AG („Motor-Columbus“), eine Aktiengesellschaft mit Sitz in Baden. Sie hält eine Beteiligung von 58.5% an der Atel. Ihr Aktienkapital beträgt CHF 253'000'000, eingeteilt in 506'000 Inhaberaktien mit einem Nennwert von je CHF 500 („Motor-Columbus-Aktien“). Die Aktien sind an der SWX kotiert. Die Statuten der Motor-Columbus enthalten eine Opting out-Klausel.

D.
Die UBS AG („UBS“) mit Sitz in Zürich und Basel hielt eine Beteiligung von 55.6% an Motor-Columbus. Am 29. September 2005 schloss die UBS einerseits mit der EOS-Holding, Lausanne („EOS-H“), den Aziende Industriali di Lugano AG, Lugano („AIL“), der Elektra Birseck, Münchenstein („EBM“), der Elektra Baselland, Liestal („EBL“), der IBAarau AG, Aarau („IBA“), dem Kanton Solothurn („KtSO“) und den Wasserwerken Zug, Zug („WWZ“), sowie der Atel und andererseits mit der Electricité de France International, Paris („EdFI“) je einen Aktienkaufvertrag ab, worin der Erwerb bzw. Verkauf der UBS-Beteiligung an der Motor-Columbus in der Höhe von 55.64% geregelt wird (nachfolgend „Aktienkaufverträge“). Der Vollzug der Aktienkaufverträge ist an verschiedene Bedingungen geknüpft. Der Vollzug wird anfangs 2006 erwartet. Ebenfalls am 29. September 2005 – zeitgleich mit den Aktienkaufverträgen – haben EOS-H, AIL, EBM, EBL, IBA, KtSO, WWZ, EdFI (alle zusammen „Konsortium“ oder „Konsortialmitglieder“) und Atel eine Konsortialvereinbarung (nachfolgend „Konsortialvereinbarung“) abgeschlossen. Diese besteht aus einer Transaktionsvereinbarung, welche die Vorbereitung und Durchführung der verschiedenen Transaktionsschritte zur Umsetzung der zukünftigen Strategie und industriellen Absicht der Konsortialmitglieder und der Atel – nämlich die führende Energiegesellschaft der westlichen Schweiz mit europäischer Ausrichtung und Dimension zu schaffen – umfasst, und einer Aktionärsvereinbarung, die Aspekte der Corporate Governance von Atel (bzw. deren Rechtsnachfolger) und Übertragungsbeschränkungen betreffend Atel-Aktien beinhaltet. Das Konsortium hält insgesamt eine Beteiligung von 32.46% an Atel. Durch die Aktienkaufverträge werden das Konsortium und Atel per Vollzugstag insgesamt eine Beteiligung von 55.64% an der Motor-Columbus erwerben. Diese Gesamttransaktion wurde – nach Angaben der Gesuchsteller – aus formellen Gründen in zwei separaten Aktienkaufverträgen geregelt. Weitere bedeutende Aktionäre der Motor-Columbus sind EdFI, welche 20% und EOS-H, welche 15.44% der Inhaberaktien der Motor-Columbus hält.

Am 11. August 2005 ist die Übernahmekommission in einer Empfehlung zum Schluss gekommen, dass die Parteien der Konsortialvereinbarung mit deren Unterzeichnung eine Gruppe bilden, die den Grenzwert von 33 1/3% der Stimmrechte der Motor-Columbus und indirekt der Atel überschreitet und somit gemäss Art. 32 Abs. 1 BEHG zur Unterbreitung eines öffentlichen Übernahmeangebots an die Aktionäre der Atel verpflichtet ist (s. Empfehlung in Sachen Aare-Tessin AG für Elektrizität vom 11. August 2005, Erw. 1.3 und 3.4). Die Übernahmekommission hat mit dieser Empfehlung dem Konsortium sowie Atel eine Erstreckung der Frist zur Unterbreitung des Übernahmeangebots an die Aktionäre von Atel bis zum Vollzug der Aktienkaufverträge, längstens jedoch bis Februar 2006 gewährt.

E.
Die Aktionärsstruktur von Rätia Energie ist wie folgt: Die Atel hält 24.6%, die Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg AG, Laufenburg („EGL“) 21.4% und der Kanton Graubünden 46% der Rätia-Aktien. Rätia Energie besitzt 0.5% eigene Aktien und der Rest von 7.5% der Rätia-Aktien ist im Publikum gestreut. Atel hält zusätzlich 5'361 Rätia-PS, entsprechend 0.85% des Partizipationskapitals. EGL und der Kanton Graubünden halten keine Rätia-PS.

F.
Atel, EGL und der Kanton Graubünden (zusammen die „Rätia-Aktionärsgruppe“) haben am 2. Dezember 1999 einen Vertrag mit Ergänzung vom 20. Februar 2002 betreffend Rätia Energie abgeschlossen (zusammen der „Aktionärbindungsvertrag“). Danach muss die Rätia Energie ein selbständiges, privatwirtschaftliches und nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen geführtes bündnerisches Unternehmen bleiben. Darüber hinaus enthält der Aktionärbindungsvertrag Bestimmungen über die Corporate Governance von Rätia Energie und Übertragungsbeschränkungen betreffend Rätia-Aktien (Vorhand- und Vorkaufsrechte). Im Verwaltungsrat sind gemäss Aktionärbindungsvertrag der Kanton Graubünden mit sechs Mitgliedern und Atel sowie EGL mit je drei Mitgliedern vertreten. Wichtige Beschlüsse in den jeweils zuständigen Gremien – wie Entscheide über die Dividendenpolitik, strategische Ausrichtung, wasserrechtliche Konzessionsverhandlungen und Abschluss der entsprechenden Verträge, Akquisitionen, Ernennung und Abberufung des Vorsitzenden der Geschäftsleitung sowie Statutenänderungen – können nur mit Zustimmung aller Vertragsparteien gefasst werden. Zudem sind die Vertragsparteien verpflichtet, ihre Beteiligungen so auszugleichen, dass die kapital- und stimmenmässige Beteiligung des Kantons Graubünden rund gleich hoch wird, wie die entsprechenden Beteiligungen von Atel und EGL zusammen.

G.
Am 13. Oktober 2005 haben Atel, das Konsortium, der Kanton Graubünden und EGL (alle zusammen die „Gesuchsteller“) bei der Übernahmekommission ein Gesuch eingereicht mit folgenden Anträgen:

„1. Es sei festzustellen, dass weder die Unterzeichnung der Konsortialvereinbarung zwischen Atel, EdFI, EOS-H, AIL, EBM, EBL, IBA, KtSO und WWZ noch der Vollzug der Aktienkaufverträge zwischen UBS und Atel, EOS-H, AIL, EBM, EBL, IBA, KtSO und WWZ einerseits sowie zwischen UBS und EdFI andererseits eine Pflicht der Rätia-Aktionärsgruppe zur Unterbreitung eines öffentlichen Übernahmeangebots im Sinne von Art. 32 Abs. 1 BEHG für alle sich im Publikum befindenden Inhaberaktien und Partizipationsscheine der Rätia Energie auslöst.

2. Eventualiter: Es sei der Rätia-Aktionärsgruppe mit Unterzeichnung bzw. Vollzug der Aktienkaufverträge eine Ausnahme im Sinne von Art. 34 Abs. 1 BEHV-EBK von der Pflicht zur Unterbreitung eines öffentlichen Übernahmeangebots im Sinne von Art. 32 Abs. 1 BEHG für alle sich im Publikum befindenden Inhaberaktien und Partizipationsscheine der Rätia Energie zu gewähren.“

H.
Zur Prüfung dieser Angelegenheit wurde ein Ausschuss bestehend aus den Herren Hans Rudolf Widmer (Präsident), Raymund Breu und Alfred Spörri gebildet.


Die Übernahmekommission zieht in Erwägung:

1. Rätia-Aktionärsgruppe als Gruppe im Sinne von Art. 27 BEHV-EBK

1.1 Gemäss Art. 32 Abs. 1 BEHG muss diejenige Person, welche direkt, indirekt oder in gemeinsamer Absprache mit Dritten Beteiligungspapiere erwirbt und damit zusammen mit den Papieren, die sie bereits besitzt, den Grenzwert von 33 1/3% der Stimmrechte einer Zielgesellschaft, ob ausübbar oder nicht, überschreitet, ein Angebot für alle kotierten Beteiligungspapiere der Gesellschaft unterbreiten. Gemäss Art. 27 i.V.m. Art. 15 Abs. 1 BEHV-EBK handelt in gemeinsamer Absprache oder als Gruppe, wer im Hinblick auf die Beherrschung einer Zielgesellschaft seine Verhaltensweise mit Dritten durch Vertrag oder andere organisierte Vorkehren abstimmt.

1.2 Der Kanton Graubünden, die Atel und die EGL sind gemeinsam im Aktionärbindungsvertrag eingebunden (vgl. Sachverhalt lit. F), der neben Vorhand- und Vorkaufsrechten auf die Rätia-Aktien der Vertragsparteien auch Stimmbindungen festlegt. Dass die Rätia-Aktionärsgruppe als Gruppe im Sinne von Art. 27 i.V.m. Art. 15 Abs. 1 BEHV-EBK zu qualifizieren ist, wird von keiner Partei bestritten.

Da sich mit Unterzeichnung der Konsortialvereinbarung (vgl. oben lit. D) – und auf jeden Fall spätestens mit Vollzug der Aktienkaufverträge – die Beteiligungsverhältnisse an Motor-Columbus und damit indirekt auch an Atel ändern, stellt sich im Folgenden die Frage, ob diese Änderung bei einem Mitglied der Rätia-Aktionärsgruppe eine Angebotspflicht gemäss Art. 32 Abs. 1 BEHG auslöst.

2. Änderung in der Zusammensetzung der Rätia-Aktionärsgruppe

2.1 Wenn es innerhalb einer beherrschenden Gruppe im Sinne von Art. 27 BEHV-EBK zu Modifikationen kommt, sei es durch den Hinzutritt von neuen Aktionären in eine Gruppe, durch Ausscheiden von Gruppenmitgliedern oder durch Verschiebungen innerhalb der Gruppe, sei es durch Modifikationen am der Gruppe zugrundeliegenden (Aktionärbindungs-)Vertrag, muss grundsätzlich festgestellt werden, ob sich die Verhältnisse innerhalb der Gruppe wesentlich ändern und dadurch eine neue Gruppe entsteht. Wenn sich die Verhältnisse innerhalb eines kontrollierenden Aktionärspools entscheidend verändern, soll den Minderheitsaktionären die Option gewährt werden, aus der Gesellschaft auszutreten, da dies einem Kontrollwechsel gleichkommen kann. Demzufolge vermag die Modifikation von Aktionärbindungsverträgen eine Angebotspflicht auszulösen. Dies betrifft sowohl Änderungen hinsichtlich der beteiligten Aktionäre als auch hinsichtlich der materiellen Normen des dem Aktionärspool zugrundeliegenden Aktionärbindungsvertrags (vgl. , Erw. 1.1 und , Erw. 2.1).

2.2 Die Gesuchsteller machen geltend, im vorliegenden Fall entstehe keine neue Gruppe im Sinne des Übernahmerechts. Diese führen im Wesentlichen aus, die Beteiligung von Atel an Rätia Energie von 24.6% und deren Einfluss in der Rätia-Aktionärsgruppe seien unbedeutend und nicht geeignet, die Beherrschungsverhältnisse bei der Rätia Energie oder innerhalb der Rätia-Aktionärsgruppe zu beeinflussen. Die Atel bzw. das Konsortium könne keinen beherrschenden Einfluss auf die Führung der Rätia Energie ausüben. Die indirekte Änderung in den Beteiligungsverhältnissen bei der Atel sei deshalb übernahmerechtlich irrelevant. Des Weiteren wird geltend gemacht, im vorliegenden Fall ändere die Zusammensetzung der Rätia-Aktionärsgruppe nicht. Der Kontrollwechsel auf der Ebene der Motor-Columbus und somit der Wechsel des wirtschaftlich Berechtigten von Atel könne nicht als Änderung in der Zusammensetzung der Rätia-Aktionärsgruppe qualifiziert werden. Die direkte Beteiligung an der Rätia Energie ändere nicht, ebenso wenig die Vertragsparteien des Aktionärbindungsvertrags. Abschliessend wird ausgeführt, die indirekte Überschreitung des Grenzwerts durch den Kauf der Motor-Columbus-Aktien durch das Konsortium und Atel führten nicht dazu, dass sich eine Änderung in der Rätia-Aktionärsgruppe ergebe, die wirtschaftlich einen Kontrollwechsel bei der Rätia Energie bedeute und damit zu einer Angebotspflicht führen müsste.

2.3 Zu den Argumenten der Gesuchsteller kann das Folgende festgehalten werden: Die Parteien der Konsortialvereinbarung (vgl. Sachverhalt lit. D) bilden mit deren Unterzeichnung eine Gruppe, die den Grenzwert von 33 1/3% der Stimmrechte der Motor-Columbus und indirekt an Atel überschreitet (s. , Erw. 1.3 und 3.4). Der Kontrollwechsel auf der Ebene der Motor-Columbus führt somit indirekt zu einer Änderung der Beherrschungsverhältnisse auf der Ebene von Atel. Obwohl formell – wie von den Gesuchstellern geltend gemacht – die direkte Beteiligung an Rätia Energie und die Vertragsparteien des Aktionärbindungsvertrages nicht ändern, bewirkt dieser Kontrollwechsel bei Motor-Columbus materiell bzw. indirekt eine Änderung in der Zusammensetzung der Rätia-Aktionärsgruppe. Dies deshalb, weil das Konsortium aufgrund der Konsortialvereinbarung die wirtschaftliche Kontrolle über Atel und damit über deren 24.6%-igen Beteiligung an Rätia Energie erwirbt. Der Wechsel des wirtschaftlich Berechtigten von Atel ist so zu behandeln, wie wenn ein Aktionär aus dem Aktionärspool ausgetreten und ein neuer dem Pool beigetreten wäre. Somit muss im Folgenden lediglich festgestellt werden, ob es sich dabei um eine wesentliche Änderung der Verhältnisse innerhalb der Rätia-Aktionärsgruppe handelt.

2.4 Die Atel, deren Beteiligungs-und Kontrollverhältnisse geändert haben, hält einen Anteil von 24.6% an Rätia Energie. Diese Beteiligung kann nicht – wie von den Gesuchstellern geltend gemacht – als unbedeutend bezeichnet werden, vielmehr ist von einer qualifizierten Beteiligung auszugehen, welche einen massgeblichen Einfluss vermittelt. Der damit einhergehende Einfluss manifestiert sich im vorliegenden Fall insbesondere im Vetorecht, welches jedes Mitglied des Aktionärspools gemäss Aktionärbindungsvertrag bei wichtigen Beschlüssen der Rätia Energie bzw. der Gruppengesellschaften – wie Entscheide über die Dividendenpolitik, strategische Ausrichtung der Gruppengesellschaften, Akquisitionen, Statutenänderungen inkl. Kapitalveränderungen etc. – innehat. Vor der Beschlussfassung in den jeweils zuständigen Organen der Gruppengesellschaften ist nämlich die Zustimmung aller Vertragsparteien für solche Geschäfte erforderlich. Kann über eine wichtige Frage kein Einvernehmen erzielt werden, können gemäss Aktionärbindungsvertrag keine Beschlüsse gefasst werden. Ein solches Vetorecht gibt jedem Mitglied des Aktionärspools die Möglichkeit, entscheidenden Einfluss in wichtigen Fragen und Geschäften der Rätia Energie bzw. der Gruppengesellschaften auszuüben. Eine Änderung hinsichtlich der am Aktionärbindungsvertrag beteiligten Aktionäre kann in diesem Fall nicht als geringfügige Verschiebung innerhalb der organisierten Gruppe bezeichnet werden. Aus der Sicht des Minderheitsaktionärs ist die Frage, welcher Aktionär mit solchen Vetorechten ausgestattet ist und somit massgeblichen Einfluss auf die Geschicke der Gesellschaft ausüben kann, wichtig. Die im Aktionärbindungsvertrag vorgesehene und von jedem einzelnen Poolmitglied abhängige einvernehmliche Beschlussfassung und dadurch die Ausrichtung der Rätia Energie und ihrer Gruppengesellschaften können sich in den dem Vetorecht unterliegenden Fragen entscheidend ändern, wenn ein Aktionär aus dem Aktionärspool austritt und ein neuer dem Pool beitritt. Durch die indirekte Änderung der Zusammensetzung der Rätia-Aktionärsgruppe verändert sich demzufolge auch deren Natur aus der Sicht des Minderheitsaktionärs der Rätia Energie. Dies umso mehr als dem Minderheitsaktionär die strategischen Absichten des (mittelbar) neuen Mitglieds des Aktionärspools – das Konsortium – in Bezug auf die Rätia Energie und somit dessen Umgang mit den Vetorechten der Atel innerhalb der Rätia-Aktionärsgruppe noch nicht bekannt sind. Durch Unterzeichnung der Konsortialvereinbarung ist somit materiell eine neue Gruppe entstanden, welche den angebotspflichtigen Schwellenwert von 33 1/3% der Stimmrechte an Rätia Energie überschreitet. Die Rätia-Aktionärsgruppe, bestehend aus Atel, EGL und dem Kanton Graubünden, unterliegt grundsätzlich der Pflicht, den Inhabern von Rätia-Aktien und Rätia-PS ein Angebot im Sinne von Art. 32 Abs. 1 BEHG zu unterbreiten.

3. Ausnahme von der Angebotspflicht

3.1 Eventualiter beantragen die Gesuchsteller, es sei festzustellen, dass die Voraussetzungen für eine Ausnahmebewilligung gemäss Art. 34 Abs. 2 lit. c BEHV-EBK gegeben sind. Vorliegend handle es sich um den Fall eines indirekten vorausgegangenen Erwerbs im Sinne von Art. 26 i.V.m. Art. 9 Abs. 3 lit. c BEHV-EBK, da das Konsortium aufgrund der Konsortialvereinbarung die wirtschaftliche Kontrolle über Atel und dadurch indirekt über deren 24.6%-Beteiligung an Rätia Energie erwerbe. Darauf basierend wird die Ausnahme sodann im Wesentlichen mit der fehlenden strategischen Bedeutung der Beteiligung an Rätia Energie innerhalb der Atel-Gruppe und den konkreten Verhältnissen begründet, die eine tatsächliche Vermutung rechtfertigten, dass auch in Zukunft – wie in der Vergangenheit – keine direkte oder indirekte Einflussnahme des Konsortiums bzw. der Atel auf die operative Selbständigkeit der Rätia Energie ausgeübt wird. Weder das Konsortium noch Atel hätten die Möglichkeit, den Geschäftsgang oder die Geschäftspolitik der Rätia Energie zu beeinflussen. Im Übrigen habe Atel bisher keinesfalls auf die Geschäftstätigkeit der Rätia Energie Einfluss genommen.

3.2 Es ist fraglich, ob hier wirklich – wie von den Gesuchstellern geltend gemacht – ein indirekter vorausgegangener Erwerb im Sinne von Art. 26 i.V.m. Art. 9 Abs. 3 lit. c BEHV-EBK vorliegt. Beim Entstehen einer neuen Gruppe gilt die gesamte von den Gruppenmitgliedern gehaltene Beteiligung als neu erworben. Somit liegt vorliegend kein indirekter, sondern ein direkter Erwerb durch die neue Rätia-Aktionärsgruppe vor. Die Frage muss allerdings nicht weiter vertieft werden, da gemäss Art. 32 Abs. 2 BEHG bzw. Art. 34 Abs. 1 BEHV-EBK in berechtigten Fällen ein angebotspflichtiger Erwerber von der Pflicht zur Unterbreitung eines Angebots befreit werden kann. Dies ist insbesondere dann möglich, wenn sich die Kontrollverhältnisse in Bezug auf die Zielgesellschaft nicht ändern (siehe Entscheid des Schweizerischen Bundesgerichts vom 2. Juli 2001 in Sachen Baumgartner Papiers Holding SA c. Übernahmekammer der Eidgenössischen Bankenkommission u.a., Erw. 5c; , Erw. 2.2; , Erw. 2.3).

Im vorliegenden Fall findet durch die (indirekte) Veränderung in der Zusammensetzung der Gruppe keine Änderung der Kontrollverhältnisse statt. Die Rätia-Aktionärsgruppe hält insgesamt 92% der Rätia-Aktien, wobei Atel 24.6% davon besitzt. Die EGL und der Kanton Graubünden halten weiterhin 21.4% respektive 46% der Rätia-Aktien. Gemäss Aktionärbindungsvertrag hat die Atel weiterhin das Recht, lediglich drei von insgesamt zwölf Verwaltungsräten zu stellen. Weder die Höhe der Beteiligung noch die Anzahl Sitze im Verwaltungsrat eröffnen Atel – und damit mittelbar dem Konsortium – die Möglichkeit, neu einen beherrschenden Einfluss auf die Rätia Energie auszuüben. Die Änderung in den indirekten Beteiligungsverhältnissen der Atel bewirkt somit keinen Kontrollwechsel bei der Rätia Energie. Wechselnde Koalitionen in der Rätia-Aktionärsgruppe sind weiterhin möglich und es bestehen für die Übernahmekommission keine Anhaltspunkte, dass sich durch den „Hinzutritt“ des Konsortiums daran etwas geändert hätte. Abschliessend kann somit festgehalten werden, dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer Ausnahme von der Angebotspflicht gemäss Art. 32 Abs. 2 BEHG bzw. Art. 34 Abs. 1 BEHV-EBK erfüllt sind.

3.3 Der Klarheit halber sei festgehalten, dass diese Feststellung nur in Bezug auf den der Übernahmekommission vorgelegten Sachverhalt Geltung haben kann. Sollte die Rätia-Aktionärsgruppe, insbesondere der Aktionärbindungsvertrag hinsichtlich der beteiligten Aktionäre oder der materiellen Normen, eine Änderung erfahren, wäre dies der Übernahmekommission umgehend zu melden und die Frage eines allfälligen Kontrollwechsels erneut zu prüfen.

4. Stellungnahme des Verwaltungsrats der (potentiellen) Zielgesellschaft

4.1 Der Verwaltungsrat einer (potentiellen) Zielgesellschaft hat nicht nur im Rahmen eines öffentlichen Kaufangebots eine Stellungnahme zu veröffentlichen (Art. 29 Abs. 1 BEHG i.V.m. Art. 31 ff. UEV-UEK), sondern gemäss Praxis der Übernahmekommission auch zu Gesuchen von Aktionären um Gewährung einer Ausnahme von der Angebotspflicht nach Art. 32 Abs. 2 BEHG und 34 BEHV-EBK Stellung zu nehmen (vgl. Erw. 1.2). Diese Praxis findet grundsätzlich auch Anwendung auf Gesuche nach Art. 35 Abs. 1 BEHV-EBK, in denen ein Aktionär (oder eine Aktionärsgruppe) von der Übernahmekommission eine Stellungnahme zum Bestehen oder Nichtbestehen einer Angebotspflicht verlangt, befindet sich doch die Zielgesellschaft im einen wie im andern Fall in einer potentiellen Übernahmesituation (vgl. , Erw. 1.1; , Erw. 1.1 f.).

4.2 Der Verwaltungsrat von Rätia Energie hat sich mit Stellungnahme vom 25. Oktober 2005 zum Gesuch der Gesuchsteller vernehmen lassen. Der Verwaltungsrat der Rätia Energie unterstützt das Gesuch der Gesuchsteller um Feststellung des Nichtbestehens einer Angebotspflicht bzw. allenfalls um Gewährung einer Ausnahme von der Angebotspflicht. Er macht im Wesentlichen die selben Argumente wie die Gesuchsteller geltend. Im Übrigen beantragt der Verwaltungsrat der Rätia Energie, es sei in diesem Zusammenhang auf eine Veröffentlichung seiner Stellungnahme im Schweizerischen Handelsamtsblatt zu verzichten.

4.3 In Bezug auf allfällige Interessenkonflikte hält der Verwaltungsrat von Rätia Energie in seiner Stellungnahme fest, gemäss Aktionärbindungsvertrag bestehe der Verwaltungsrat der Rätia Energie aus zwölf Mitgliedern, wobei sechs Mitglieder auf Vorschlag des Kantons Graubünden (nämlich Luzi Bärtsch, Präsident; Reto Mengiardi, Vizepräsident; Christoffel Brändli; Rudolf Hübscher; Guido Lardi und Alois Maissen), je drei Mitglieder auf Vorschlag von Atel (nämlich Kurt Baumgartner, CFO von Atel; Antonio Taormina, Mitglied der Geschäftsleitung von Atel und Jörg Aeberhard, Leiter Hydraulische Produktion Atel) bzw. von EGL (nämlich Emanuel Höhener, CEO von EGL; Jean-Claude Scheurer, Mitglied der Geschäftsleitung der EGL und Rolf W. Mathis, Mitglied der Geschäftsleitung der Nordostschweizerischen Kraftwerke AG, Baden, und der Axpo-Gruppe) gewählt würden.
Hinsichtlich der auf Antrag von Atel und EGL in den Verwaltungsrat gewählten Mitglieder bestünden direkte Verflechtungen mit den Gesuchstellern. Diese Personen gehörten nicht nur dem Verwaltungsrat der Rätia Energie an, sondern stünden zur Atel bzw. EGL gleichzeitig in einem direkten oder indirekten rechtlichen Abhängigkeitsverhältnis und nähmen dort selber an den wesentlichen Entscheidprozessen teil. Der Verwaltungsrat sei sich bewusst, dass sich die von Atel und EGL vorgeschlagenen Mitglieder des Verwaltungsrats in einem potentiellen Interessenkonflikt befänden. Zur Vermeidung dieses Interessenkonflikts seien die Mitglieder mit direkten oder indirekten Verflechtungen zur Atel und zur EGL bei Beschluss über die Stellungnahme in den Ausstand getreten.

Weiter führt der Verwaltungsrat der Rätia Energie in seiner Stellungnahme aus, auch der Kanton Graubünden gehöre zu den Gesuchstellern. Im Gegensatz zu den von Atel und EGL vorgeschlagenen Mitgliedern des Verwaltungsrats stünden die vom Kanton Graubünden vorgeschlagenen Mitglieder in keinerlei rechtlichem Abhängigkeits- oder Weisungsverhältnis zum Kanton Graubünden, und sie seien auch sonst nicht irgendwie an den Entscheiden des Kantons in seiner Eigenschaft als Aktionär der Rätia Energie beteiligt. Zwischen dem Kanton Graubünden und den von ihm vorgeschlagenen Mitgliedern des Verwaltungsrats bestünden deshalb weder direkte noch indirekte Verflechtungen, weshalb diese Mitglieder des Verwaltungsrats beim Beschluss über die Stellungnahme nicht in den Ausstand zu treten hätten.

4.4 Die Überlegungen und die Argumentation des Verwaltungsrats der Rätia Energie bei der Gutheissung des Gesuchs der Gesuchsteller sind aus seiner Stellungnahme ersichtlich. Nachdem das Zustandekommen des Entscheids anlässlich der Abgabe dieser Stellungnahme und die Frage allfälliger Interessenkonflikte vom Verwaltungsrat der Rätia Energie in seiner Stellungnahme ebenfalls offengelegt worden sind, können die Minderheitsaktionäre in voller Kenntnis der Sachlage über die Ausübung ihres Einspracherechts nach Art. 34 Abs. 4 BEHV-EBK entscheiden.

5. Auflage für die Rätia Energie

Gemäss Art. 34 Abs. 3 BEHV-EBK wird die Ausnahmegewährung im vorliegenden Fall mit der Auflage für Rätia Energie verbunden, die Stellungnahme ihres Verwaltungsrats, mit der dieser das Gesuch der Gesuchsteller unterstützt, zu veröffentlichen. Diese Massnahme sollte den Inhabern von Beteiligungspapieren der Rätia Energie ermöglichen, in Kenntnis der Sachlage über die Ausübung des Einspracherechts nach Art. 34 Abs. 4 BEHV-EBK zu entscheiden.
Auf die Veröffentlichung der Stellungnahme findet Art. 32 UEV-UEK sinngemäss Anwendung (siehe ; ). Die Stellungnahme des Verwaltungsrats der Rätia Energie muss demnach zumindest in einer deutsch- und einer französischsprachigen Zeitung publiziert werden, und zwar in einer Art, die eine nationale Verbreitung sicherstellt. Weiter muss die Stellungnahme auch mindestens einem der bedeutenden elektronischen Medien, welche Börseninformationen verbreiten, zugestellt werden (Art. 32 Abs. 3 UEV-UEK). Die Publikation der Stellungnahme des Verwaltungsrats hat am 18. November 2005 zu erfolgen und den Wortlaut von Art. 34 Abs. 4 BEHV-EBK wiederzugeben. Die Übernahmekommission wird die Gewährung der Ausnahme am selben Tag im Schweizerischen Handelsamtsblatt („SHAB“) veröffentlichen. Eine Veröffentlichung der Stellungnahme des Verwaltungsrats im SHAB ist nicht erforderlich. Demzufolge ist auf den Antrag des Verwaltungsrats, es sei auf eine Veröffentlichung seiner Stellungnahme im SHAB zu verzichten (vgl. oben Erw. 4.2), nicht weiter einzugehen.

6. Publikation

Die vorliegende Empfehlung wird in Anwendung von Art. 23 Abs. 3 BEHG nach Eröffnung an die Gesuchsteller und die Zielgesellschaft am 18. November 2005 auf der Website der Übernahmekommission veröffentlicht. Die Befreiung von der Angebotspflicht wird im SHAB vom 17. November 2005, das am 18. November 2005 erscheint, publiziert.

7. Gebühr

In Anwendung von Art. 23 Abs. 5 BEHG und Art. 62 Abs. 6 UEV-UEK wird für die Gewährung der vorliegenden Ausnahme von der Pflicht zur Unterbreitung eines Angebotes eine Gebühr erhoben. Der Ausschuss setzt die Gebühr auf CHF 30'000 fest. Die Gesuchsteller haften hierfür solidarisch.


Gestützt auf diese Erwägungen erlässt die Übernahmekommission die folgende Empfehlung:

  1. Der Aare-Tessin AG für Elektrizität, Olten, der Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg AG, Laufenburg, und dem Kanton Graubünden wird, unter Vorbehalt von Ziff. 2 dieses Dispositivs, eine Ausnahme von der Pflicht gewährt, allen Inhabern von kotierten Beteiligungspapieren der Rätia Energie AG, Brusio, ein öffentliches Kaufangebot zu unterbreiten. 

  2. Die Parteien haben jegliche Änderung der Rätia-Aktionärsgruppe, insbesondere des Aktionärbindungsvertrags, umgehend der Übernahmekommission mitzuteilen, welche sich für den Fall wesentlicher Änderungen eine Neubeurteilung der Situation vorbehält. 

  3. Diese Ausnahmegewährung wird mit der Auflage für Rätia Energie AG verbunden, die Stellungnahme ihres Verwaltungsrats, mit der sich dieser für die Erteilung dieser Ausnahme ausgesprochen hat, zu veröffentlichen. Die Publikation hat am 18. November 2005 zumindest in einer deutsch- und einer französischsprachigen Zeitung in einer Art, die eine nationale Verbreitung gewährleistet, zu erfolgen und den Wortlaut von Art. 34 Abs. 4 BEHV-EBK wiederzugeben. Die Stellungnahme der Mitglieder des Verwaltungsrats muss auch mindestens einem der bedeutenden elektronischen Medien, welche Börseninformationen verbreiten, zugestellt werden. 

  4. Die vorliegende Empfehlung wird am 18. November 2005 auf der Website der Übernahmekommission veröffentlicht. 

  5. Die Gebühr zu Lasten der EOS-Holding, Lausanne, der Aziende Industriali di Lugano AG, Lugano, der Elektra Birseck, Münchenstein, der Elektra Baselland, Liestal, der IBAarau AG, Aarau, des Kantons Solothurn, der Wasserwerke Zug, der Electricité de France International, Paris, der Aare-Tessin AG für Elektrizität, Olten, der Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg AG, Laufenburg und des Kantons Graubünden beträgt CHF 30'000, unter solidarischer Haftung.

     

Der Präsident:

Hans Rudolf Widmer


Die Parteien können diese Empfehlung ablehnen, indem sie dies der Übernahmekommission spätestens fünf Börsentage nach Empfang der Empfehlung schriftlich melden. Die Übernahmekommission kann diese Frist verlängern. Sie beginnt bei Benachrichtigung per Telefax zu laufen. Eine Empfehlung, die nicht in der Frist von fünf Börsentagen abgelehnt wird, gilt als von den Parteien genehmigt. Wenn eine Empfehlung abgelehnt, nicht fristgerecht erfüllt oder wenn eine genehmigte Empfehlung missachtet wird, überweist die Übernahmekommission die Sache an die Bankenkommission zur Eröffnung eines Verwaltungsverfahrens.


Mitteilung an:

  • EOS-Holding, Aziende Industriali di Lugano AG, Elektra Birseck, Elektra Baselland, IBAarau AG, Kanton Solothurn, Wasserwerke Zug, Electricité de France International, Aare-Tessin AG für Elektrizität, Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg AG, Kanton Graubünden, jeweils durch ihren Vertreter;
  • Rätia Energie AG;
  • die EBK.